PartnerzyPartners
QR-kodyQR codes
MiejscaLocations
WRO 07 ReaderWRO 07 Reader
SympozjumSymposium
WydarzeniaEvents
KonkursCompetition
ProgramSchedule
NewsNiusy

WRO 07 Reader

Laboratorium des Sehens und des Hörens

I.
Möglicherweise markierte eine Ausstellung, die Mitte der 1990er in der Londoner Hayward Gallery inszeniert wurde, und die in Deutschland kaum registriert wurde, einen Neuanfang. Sie hieß SPELLBOUND: ART AND FILM – Kunst und Film in wechselseitiger Verzauberung. Regisseure wie Monty-Python-Star Terry Gilliam, Peter Greenaway und Ridley Scott montierten in der Galerie nahe dem National Film Theatre an der Themse großformatige Raum-Installationen. Douglas Gordon lockte Scharen vor allem junger Leute mit Schlafsäcken vor eine Riesenleinwand, auf der seine auf 24 Stunden gedehnten Szenen aus Hitchcocks PSYCHO im endlosen loop liefen. Ein junger, damals noch unbekannter, schwarzer Experimentalfilmer und Photograph vom Londoner Goldsmith College durfte seine poetischen Verdichtungen von Zeitbildern erstmals in einer großen Galerie zeigen. Kurze Zeit später erreichte Steve McQueen mit seiner eigenwilligen Adaptation von Buster Keaton’s Atem beraubendem stunt mit der über seinen Kopf stürzenden Hausfront bereits einen der heiligen Tempel zeitgenössischer Kunst; seine Installation, die auch einfach und wunderbar als Film funktioniert, wurde vom New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) angekauft. Produziert wurde die Arbeit wie ein Spielfilm. Keith Griffiths von Koninck, der u. a. die Brothers Quay, Jan Svankmajer, Chris Petit oder Patrick Keiller betreut, zeichnete als Produzent für die Arbeit. Gedreht wurde sie in den legendären Pinewood Studios.

In der letzten Dekade ist das enge Wechselverhältnis zwischen Film und Bildender Kunst, das bereits die erste Avantgarde in den 1920ern und die zweite nach dem Zweiten Weltkrieg prägte, wieder zu neuem energetischem Leben erwacht. Gallerien und Kunstvereine haben auch in Deutschland den sound von laufenden Filmprojektoren wieder als reizvolles Klangambiente entdeckt und ihre an Malerei und Zeichnung gewöhnten Besucher goutieren das grobe Korn von 16mm- und Super8-Material; vereinzelt und temporär öffnen Kinos ihre ökonomisch marodierenden Mieträume für vorwiegend konfektionierte Filmzeit den Experimenten von Bildenden Künstlern. Profilierte Regisseure wie Harun Farocki oder Chris Marker erweiterten ihre Filmsprache in den Raum der Installation und der multi-linearen Erzählung hinein. Auf den über fünfzig Biennalen, die es weltweit mittlerweile gibt, konkurrierten in den vergangenen Jahren mehr und mehr die Leinwände für die Projektion von Chrono-Photographien mit denjenigen der ruhenden gemalten Bilder. Die letzte Documenta in Kassel reinkarnierte endgültig den Film als künstlerisches Medium.

Nun wird das expanded cinema der zweiten Avantgarde wieder entdeckt; und es darf sogar ein eigenes Festival geben, das jene Grenzüberschreitungen offiziell und mit kräftiger öffentlicher Förderung zelebriert, die Medienkunstfestivals wie dasjenige von Osnabrück oder VIPER in der Schweiz seit vielen Jahren als selbstverständliche Praxis betreiben: die konstruktive und deshalb friedliche Koexistenz verschiedener Kunstgattungen des Visuellen und des Audiovisuellen. Schon im ersten Durchlauf demonstrierte die Kölner KunstFilmBienale, dass es noch einzureißende Mauern zwischen Filmen, die sich ambitioniert mit Kunst befassen und Künstlern, die ihrer Begeisterung für den Film auch praktischen Ausdruck verleihen, schlicht nicht mehr gibt. Sie sind längst ohne Getöse gefallen. Für diejenigen, die Kunst herstellen, wie für diejenigen, die sie genießen, waren dogmatische Definitionen oder die Kämpfe um Territorien und Privilegien noch nie wirklich von Bedeutung. Das beginnen nun auch die Institutionen, in denen das Definieren, Abgrenzen und das Besitzdenken zu Hause sind, zu begreifen. Glücklicherweise. Das ist gut für die experimentelle Arbeit mit Film und Video.


II.
Jede künstlerische Gattung, jede künstlerische Theorie & Praxis hat ihr Laboratorium. Für das Theater sind das immer noch einzelne Studio- oder Werkstattbühnen; für die Dichtung von leidenschaftlichen Lyrikern organisierte Salon-Lesungen oder Zeitschriften wie EISWASSER; für die moderne Musik zum Beispiel Ensembles und kooperative Projekte wie die „Musikfabrik“ in Köln. Hier werden neue Konzepte und Produktionen ausprobiert und hier wird getestet, wie ein Publikum mit den Zumutungen der Künstler umgeht.

Für die audiovisuellen Medien stellen der experimentelle Film und das ein-kanalige Video dieses Laboratorium dar. Einst erfüllte das sperrige Genre seine Funktionen des Ausprobierens, Schulens und Testens wesentlich für das Kino. Das hat sich nicht nur im Zuge dessen geändert, dass opto-chemische mechanische Techniken massiv durch elektronische und digitale verdrängt und ersetzt wurden. Das Kino ist zwar nach wie vor der wichtigste Ort der Sehnsucht von Filmemachern wie cinephilen Spektatoren. Aber in der fraktalisierten audiovisuellen Kultur des auslaufenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts ist es nicht mehr länger der master-Ort eines künstlerischen Leitmediums Film, von dem Roland Barthes in seinem – bezeichnenderweise „Beim Verlassen des Kinos“ betitelten Aufsatz – noch geschwärmt hat: als dunklem Kubus, in dem die anonymen Körper lässig verweilen und in dem die Origien der Gefühle stattfinden. Es ist ein Ort von vielen geworden, in dem filmische Experimente gezeigt und zu Gehör gebracht werden, neben dem Museum, der Galerie, dem Hörsaal, den postindustriellen Kathedralen elektronischer Musik in den E-Werken und Music Halls, zu Kulturpalästen umgebauten Stahlwerken oder Zechen und profaneren Orten wie einigen wenigen Nischen des artigen Fernsehens. Überall dort kommen experimentelle Filme zur Aufführung, geraten in die unterschiedlichsten Wahrnehmungskontexte von der Kontemplation bis zur zerstreuten Aufnahme beim Tanzen und werden von den verschiedensten Trägern abgespielt, dem traditionellen Filmprojektor ebenso wie vom Magnetband, der DVD und direkt von der Festplatte des Computers. Oder die Künstler verzichten ganz auf die audiovisuelle Präsenz und drucken ihre Filme einfach auf Papier, wie das Rosa Barba 2004 mit der #1 ihres auf zehn Teile geplanten Projekts PRINTED CINEMA – BROADCASTING FROM HOME gemacht hat.

III.
Ist der experimentelle Film nicht, einerseits, ein Dinosaurier geworden, der nirgendwo so richtig hinein passt und deshalb heimatlos geworden ist und, andererseits, ein produktives Terrain, in dem die gierigen und ewig hungrigen Kanäle der audiovisuellen Verwertungen ihr künftiges Produktmaterial zu günstigen Preisen vortesten lassen? Und, wenn man solche Fragen entschieden mit >Nein< beantwortet: Worin besteht im Zeitalter der unendlichen (Re)Produzierbarkeit von Bild-Ton-Künsten noch die besondere Qualität des Objektes unserer Begierde, und worin wird sie dauerhaft bestehen?

Was geblieben ist und bleiben wird, ist die grundlegende Funktion des experimentellen Films, die sich zunächst wie eine Tautologie liest, wenn man sie zu beschreiben versucht: Er ist die Form, in der mit Bildern in der Zeit und mit Tönen arbeitende Künstler unterschiedlicher Provenienz ihr Verhältnis zum Film radikal überprüfen und zur Disposition stellen, in der sie mit gleich Gesinnten international kommunizieren, in der sie die Grenzen der jeweils vorgegebenen Medienrahmen zu sprengen, zumindest aber in der Tiefe auszuloten versuchen. In Entwürfen, die sich nicht an den Vereinzelten vor einem Monitor richten, sondern die für die Projektion auf der Leinwand und den Klang aus Raumtönern für ein anonymes Publikum bestimmt sind.

Aus dem Material des neuen Film- und Video-Pakets lassen sich zum Glück keine modischen Trends ableiten, wohl aber markante künstlerische Gebrauchswerte, die den gegenwärtigen experimentellen Film und das ein-kanalige Video-Experiment auszeichnen. Interessanterweise lassen sich diese Gebrauchswerte nicht wesentlich an der jeweiligen Binnenästhetik der einzelnen Werke fest machen, sondern kommen deutlicher in ihrer unermüdlichen Arbeit an der Erneuerung der Produktionsweise, den Gesten und Formaten der Produktionen wie in ihren untergründigen Schwingungen zum Ausdruck.

Seitdem Künstler mit den sukzessiven Folgen von 16, 18 oder 24 Bildern in der Sekunde zu arbeiten begonnen haben, ist die Autonomie der Produktionsmittel für sie ein wichtiges Ziel und Experimentierfeld. Wie ein Maler im eigenen Atelier seine Bilder malt, ein Schriftsteller am Schreibtisch seine Texte verfasst, ein Musiker in seinem Tonstudio im Schlafzimmer oder im Keller seine Stücke entwickelt und komponiert, so sollte man auch Filme machen können. Einige haben sich diesen Traum auch verwirklicht, teilweise zumindest. Indem sie günstig einen Steenbeck erwarben, als die Schneidetische von den großen Filmfirmen abgestoßen wurden, indem sie sich Kameras aneigneten und sie für ihre Zwecke umbauten, später elektronische Schnittanlagen individuell oder in Kooperativen anschafften, mit denen sie nicht nach dem teuren Takt von Studio-Vermietern, sondern gemäß ihrer eigenen Zeitdynamiken edieren und montieren konnten. Es blieben aber immer noch bedeutende Reste, bei deren Erledigung die diversen arbeitsteiligen Bereiche der Filmindustrie unverzichtbar waren: Filmentwicklung, Labore für die Verarbeitung von speziellen Effekten, Studios für die Mischung, Anfertigung von für die Vorführung geeigneten Kopien etc.

Der Computer ist ein Monomedium, mit dem sämtliche Arbeitsschritte einer audiovisuellen Produktion erledigt werden können: der Möglichkeit nach von der Generierung der Bilder und Töne, ihrer Bearbeitung und Montage über die Herstellung von optischen und akustischen Spezialeffekten, die diversen Mischungen bis hin zum Brennen von Konserven, insofern solche künftig überhaupt noch notwendig sein werden. Der polnische Filmalchimist, Erfinder und Regisseur Zbigniew Rybczynski arbeitet seit zwei Jahrzehnten an der Entwicklung einer solchen, dem klassischen Atelier verwandten, Produktionsweise und hat mittlerweile, nach Zwischenaufenthalten in Berlin und Köln, in Los Angeles auf hohem produktions-ästhetischem Niveau die wichtigsten Grundlagen für eine autarke Produktion geschaffen. Andere, wie der Berliner Künstler Heinz Emigholz, benutzen für die Aufnahme gezielt wieder die klassische kinematographische Technik, und konzentrieren den Einsatz der digitalen Speicherungs-, Kontroll- und Steuertechnik vor allem auf die Vor- und Nachproduktion wie auch die Distribution. Sein letzter Film über die Gebäude des verdrängten Architekten Bruce Goff (aus seiner umfangreichen Reihe FOTOGRAFIE UND JENSEITS) hat seine Präsenz nicht nur im Kino gefunden, sondern wird auch weltweit als DVD benutzt. Der ehemalige Direktor des International Filmfestivals Rotterdam, Simon Fields, entwickelt gegenwärtig zusammen mit Keith Griffiths ein Projekt, in dem mit Regisseuren der Avantgarde des Weltkinos die Möglichkeiten der digitalen Produktion und Distribution ausgelotet werden sollen.

Dagegen ist die Sisyphus-Arbeit zum Beispiel von Timothee Ingen-Housz zwar eine experimentelle Miniatur. Aber sie demonstriert selbstbewusst, dass die hochgradig individuelle Produktionsweise künstlerisch reizvoll sein kann und Sinn macht. Dass WANDERLOST dazu noch Humor hat und mit (selbst)ironischem Gestus daherkommt, setzt sie von den oft nur anstrengenden vergleichbaren Versuchen des materialen Films ab. Die vermutlich Tausende von Stunden Bastelarbeit am elektronischen Detail einzelner Bildpunkte und –frames sind ohne befreiendes Gelächter nicht auszuhalten, sowohl für den Künstler nicht als auch nicht für das Publikum. Björn Melhus’ grelle und absurde elektronische Idiolatrien sind glücklicherweise wieder in dem Paket markant vertreten.

Zeitbildton: Schon die früheren Avantgarden zeichneten sich durch ein enges Wechselspiel der Bild- und Wortkünste einerseits und der Zeit-Kunst par excellence, der Musik, aus. Walther Ruttmann, Viking Eggeling, die Zusammenarbeit von René Clair und Francis Picabia, die choreographischen Kompositionen Maya Derens oder die Kooperationen zwischen John Cage und Nam June Paik sind dafür einige wenig herausragende Beispiele.

Für die jüngste Generation audiovisueller Künstler ist das Ineinander von Musik und Bild selbstverständlicher Ausgangspunkt und Arbeitsprinzip geworden. Sie ist mit beiden künstlerischen Zeitformen aufgewachsen, der Photographie und Videographie in der Zeit und den Klängen, die nur in der Dauer existieren. Sie arbeitet mit Maschinen, bei denen Bilder und Töne in derselben algorithmischen Sprache geschrieben werden. Sie präsentiert ihre Arbeit in Kontexten, in die sich Besucher hineinbegeben, weil sie ebenso gern Bilder sehen wie Musik hören bzw. die zwischen beiden Zeichenpraxen kaum mehr unterscheiden. Es geht um Rhythmen, Wellen, Bewegungen, Melodien, Harmonien und Kakatopien, durch die hindurch die Welt sinnlich und verstandesgemäß erfahren wird. Kooperationen wie die von Kirsten Winter und Simon Stockhausen oder Herwig Weiser und Felix Höfler sind mehr als nur Zeugnisse für das wechselseitige Zuhören und Zuschauen von eingefleischten Bildmenschen und Tonmenschen. Sie sind Beispiele für hochgradig synergetische Produktionen, bei denen es nicht mehr um die arbeitsteilige Realisierung eines Werks geht, sondern um die gemeinsame Entwicklung eines Ausdrucks, der sich, mit gleichen Rechten und Intensitäten, sowohl hören als auch sehen lassen kann. In häufiger werdenden Glücksfällen vereinigen sich die entsprechenden künstlerischen Sensibilitäten in einer einzigen Person und führen zu – im wahren Sinne des Wortes kongenialen Werken, wie bei Corinna Schnitt und ihrem SCHLAFENDEN MÄDCHEN, in Egbert Mittelstädts Video ELSEWHERE, bei dem der Künstler nicht nur die Bilder in der Tokyoter U-Bahn schoss, sondern auch die wunderbar delirierenden Klänge auf der Gitarre spielte, oder in PERSUADERS, in dem Peter Simon sowohl die Bilder als auch die Töne an der Rechenmaschine verführerisch komponierte.

Nach Jahrzehnten Abarbeitung an Strukturen und Materialien des Filmischen kann sich das künstlerische Experiment endlich etwas gönnen, was lange verpönt war: ein bedingungsloses Lob der Oberfläche, durchaus im Sinn des berühmten Textes des Prager Medienphilosophen Vilém Flusser gleichen Titels. Dieser Gestus ist nicht zu verwechseln mit der oberflächlichen Bearbeitung der Tiefendimensionen von Welt, wie sie uns tagtäglich durch die Kulturwasserhähne der Fernsehkanäle geboten wird. Ganz im Gegenteil: Je mehr sich die gewöhnlichen Bildersteller der Aufgabe entziehen, die visuelle Attraktivität der erlebbaren Welt mit Respekt zu feiern, desto mehr wird es zum Refugium des experimentellen Films und Videos, sie mit Mut und Intensität zu erfüllen. Matthias Müllers und Christoph Giradets BEACON ist solch ein Lob der Oberfläche. Jede Szene, jede Einstellung, die sie über die sichtbare Welt gefunden und konstruiert haben, wirkt wie ein Gesicht des Anderen, zu dessen kontemplativer Betrachtung die beiden Künstler einladen. Das vornehmste Mittel, das Filmemachern zur Verfügung steht, um Achtung gegenüber dem auszudrücken, was man sehen kann, ist die Zeit, die sie den Dingen und Prozessen widmen, die sie mit der Kamera einfangen.

Das ist die selbe Zeit, die wir als Geschenk erfahren, wenn wir etwas für uns Sensationelles zu sehen bekommen: die archaischen Formen der Bilderproduktion im indischen Großstadtalltag von Thomas Bartels, Caspar Strackes fulminanten visuellen Diskurs über die Vertikale Manhattans, der zugleich eine subtile Abhandlung über die Macht ist, Jürgen Rebles ARS MAGNA LUCIS & UMBRAE, seine eigenwillige große Kunst des Lichts & des Schattens am Beispiel gefundener Bilder über den jüngsten Erdteil, der von den Menschen entdeckt wurde, und der jetzt so gnadenlos durch die moderne Variante der Zivilisation ökologisch unter Druck gesetzt wird.

IV.
Das sind nur einige wenige Aspekte der besonderen Gebrauchswerte dieses flimmernden und tönenden Energiepakets aus den Laboratorien der Bundesrepublik Deutschland. Die Herstellungskosten, die in das gesamte Paket eingingen, unterschreiten bei weitem diejenigen eines einzigen Spielfilms für den internationalen Kinomarkt der eitlen Tauschwerte. Welchen Reichtum an Anregungen, Poesie, Irritationen und Reflexionen über den gegenwärtigen Zustand unserer audiovisuellen Kultur vermögen wir aus diesen – in der Regel - selbstausbeuterischen Experimenten zu gewinnen! Verteidigen wir die Kultur des Experiments, gerade zu einer Zeit, in der sie von Vielen als überflüssig erachtet wird. Sie ist eine freigebige verschwenderische Kultur, die aber völlig unverzichtbar: mediales (Über)Lebensmittel ist.

Der französische Maler und Philosoph Pierre Klossowski, der als Schriftsteller mit seiner Trilogie zu den Gesetzen der Gastfreundschaft berühmt wurde, schrieb um 1970 eine bemerkenswerte Ökonomie, die erst in den neunziger Jahren veröffentlicht wurde. Darin kehrt er das Gezeter der Kulturpessimisten von der Kapitalisierung und damit auch der Mechanisierung der individuellen Körper um, indem er den individuellen Leib als Tauschobjekt, als LEBENDE MÜNZE (so der Titel des Büchleins) ins Spiel bringt. Befreit von den unmittelbaren und zweckgerichteten Zwängen der Reproduktion könne der so konzipierte Körper zum souverän Handelnden werden. Dem Experiment spricht Klossowski in seiner Ökonomie eine besondere Bedeutung zu. Die Gerätefabrikation werde, so schreibt er, immer wieder mit ihrer „zeitweiligen Unfruchtbarkeit“ konfrontiert. Diese trete „umso deutlicher hervor, als der beschleunigte Rhythmus der Fabrikation unablässig dazu zwingt, der Ineffizienz (in den Produkten) vorzubeugen – wogegen ihr keine andere Zuflucht zu Gebote steht als die Verschwendung. Das Experiment, das der Effizienz als Bedingung vorausgeht, setzt den verschwenderischen Irrtum voraus. Experimentell zu erproben, was im Blick auf eine rentable Operation herstellbar ist, läuft darauf hinaus, das Risiko der Unfruchtbarkeit des Produkts zu eliminieren, um den Preis der Verschwendung von Material und menschlicher Kraft (Herstellungskosten).“

Die Gastfreundschaft, die das luxuriöse Geschenk des Goethe-Instituts in der Welt erfahren wird, ist die schönste Bestätigung für die verschwenderische Arbeit der Künstler. Ich wünsche den LEBENDEN MÜNZEN dieses „Film- und Videopakets“ viel Erfolg und lebhafte Diskussionen.

Siegfried Zielinski, Sao Paulo & Köln im November 2004



Deutsch in der FILMKRITIK, Heft 7, 1976, S. 290-293.
Erschienen in der argos edition, Brüssel, distribuiert durch Walther König, Köln, Oktober 2004.